Haus Vienna

Aus Norder Stadtgeschichte
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Haus Vienna

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Basisdaten
Entstehungszeit um 1550
Erbauer unbekannt
Bauweise Steinhaus
Erhaltungszustand erhalten
Genaue Lage Am Markt 55

26506 Norden

Das Haus Vienna (früher: Schwingehaus) ist ein denkmalgeschütztes Gebäude am nordwestlichen Marktplatz. Heute wird es auch im Allgemeinen als Bürgerhaus bezeichnet. Im Laufe seiner Geschichte hatte es 26 nachweisbare Besitzer. Benannt ist es nach der hier ab 1924 wohnhaften Familie Vienna, begonnen mit Sieben Vienna.

Geschichte

Wie ausführliche Untersuchungen der Bausubstanz nahelegen, wurde das altehrwürdige Gebäude um 1550, spätestens um 1600 errichtet.[1][2] Der Name des Bauherrn ist dabei jedoch ebenso wenig überliefert, wie ein konkretes Baujahr. Möglicherweise war dies die Familie von Rhaude, von der das Haus an den ersten namentlich bekannten Eigentümer, Albrecht Schwinge, ging.[2][3]

Albrecht Schwinge war ein Sohn des Hieronymus Schwinge aus Oldenburg und Tjade von Rhaude. Er wurde als unangenehmer Zeitgenosse beschrieben, der mehrfach eine Gefängnisstrafe verbüßte und mit der Familie zu Innhausen und Knyphausen im Streit lag. Aus Prozessakten geht hervor, dass Wilhelm zu Inn- und Knyphausen seit 1612 Besitzer des Hauses war.[3] Er vermachte es dreien seiner vier Söhne, nachdem diese ihm während finanzieller Schwierigkeiten mehrfach zur Seite gestanden hatten.[3][4][5] Diese Eigentumsübertragung ließen er und seine Ehefrau Hima Manninga am 19. Oktober 1622 öffentlich verkünden.[6]

Während des Dreißigjährigen Krieges wurde auch das - natürlich erst später so genannte - Haus Vienna von den gefürchteten Söldnern des Peter Ernst II. von Mansfeld heimgesucht und schwer beschädigt. Die Mansfelder hielten sich seinerzeit schadlos an der Bevölkerung und ihrer Habe. Flohen die Bewohner eines Hauses, wurde dieses meist in Brand gesetzt.[7] Bedingt durch die schweren Gebäudeschäden sollte das Haus am 20. April 1627 in einer Versteigerung im Weinhaus meistbietend versteigert werden. Aus unbekannten Gründen kam es hierzu nicht mehr.[8] Die Lütetsburger Grafen blieben sodann Eigentümer des Gebäudes.[6]

Ab 1722 wechselte das Haus mehrfach den Besitzer. So wohnte hier beispielsweise um 1748 der Amtsverwalter des Amtes Norden, Dr. Hajo Laurenz Damm. Später stand das Haus im Eigentum von Kaufleuten und anderen Personen.[4] So erwarb am 11. November 1793 ein Abkömmling der niederländisch-ostfriesischen Familie Thoden van Velsen (Ausmiener zu Norden) das Haus, denen zuvor auch das Gräfliche Haus gehörte, von Damms Witwe. Ab 1838 wohnte hier ein Carl Friedrich Arndt. Ihm folgt nach 1872 ein Kaufmann namens Gerdes bzw. dessen Witwe.[9]

Aus Verkaufsunterlagen aus dem Jahr 1864 geht hervor, dass zum Haus eine Scheune gehörte, die im Zusammenhang mit dem Verkauf an den Nachbarn Rösingh (Am Markt 56) erwähnt wird.[4][10] Das Haus an sich verblieb im Eigentum Arndts, bis um 1872 dann im Brandkataster ein Johannes P. Gerdes aufgeführt wurde. Nach dessen Tode erbte seine Witwe das Haus.[10]

In den Jahren 1914 bis 1919 versuchte ein Herr Rosenboom ein Lichtspieltheater (Kino) in Betrieb zu nehmen und Regierungsbausekretär Albers bemühte sich 1921 vehement, in einem umfangreichen Schriftwechsel mit der Stadt Norden, um den Einbau von Zwischenwänden, um so die Zahl der Räume für seine Kinder zu vergrößern.[4] Beide Vorhaben wurden schließlich genehmigt und nach der Entkernung des Erdgeschosses entstand ein Kinosaal für bis zu 150 Personen. Der Eingangsbereich befand sich auf der südlichen Seite des Gebäudes. Nach der Eröffnung am 20. Mai 1919 dauerte es jedoch nur wenige Monate, bis das Vorhaben endete, denn der Besucherzulauf war sehr gering und die Behörde stellte weitere Mängel fest. 1920 wurde das Gebäude daher an den Regierungsbausekretär Peter Albers zu Süderneuland II verkauft.[11]

Doch auch Peters war wenig Glück beschieden. Obwohl selbst städtischer Bediensteter begann er ohne Genehmigung mit der Sanierung des Gebäudes. Seiner Meinung nach sei der Zustand des Gebäudes in einem untragbaren und gesundheitsgefährdenden Zustand gewesen, was ihn zu dieser Notmaßnahmen veranlasst habe. Die Stadt führte daraufhin einen Prozess gegen Peters, welcher unterlag.[11]

So verkaufte Peters das Haus bald wieder, wodurch es mit Kaufvertrag vom 30. April 1924 schließlich in den Besitz der namensgebenden Familie Vienna kam, als es von Sieben Vienna erworben wurde.[9][11] Nach Siebens Tod wurde Popke Vienna Hauseigentümerin und nach ihm seine Tochter.[10]

Nach dem Tode der Tochter kaufte der Landkreis Aurich 1994 das Haus, um es vor einem weiteren Verfall oder gar Abriss zu bewahren und stattdessen grundlegend in den darauffolgenden Jahren unter eigener Regie und mit schwieriger Finanzierung durch eigene Haushaltsmittel zu restaurieren. Das Gebäude war umlaufend mit einem Zementputz versehen worden, hatte moderne große Fenster erhalten und in seinen Innenräumen höher gelegte Böden, eingezogene Decken, zusätzliche Schornsteine und absperrende Teerpappen gegen Feuchtigkeit erhalten.[4]

Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Keller mit Stahlbeton verstärkt bzw. verbunkert und diente als Luftschutzbunker.[12] Von dieser einstigen Verbunkerung ist heute nichts mehr zu erkennen.

Nach dem Tod der letzten Bewohnerin 1994 erwarb der Landkreis Aurich das Gebäude, um es vor dem weiteren Verfall oder gar einem Abriss zu bewahren.[11] Die Restaurierung wurde in den ersten dreieinhalb Jahren ausschließlich von kaum oder gar nicht deutschsprechenden Zuwanderern aus Weißrussland geleistet, die aus verschiedenen Berufssparten kommend, in einer Maßnahme nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von der Kreisvolkshochschule betreut und eingesetzt wurden. Der Zuwandererstrom aus den östlichen Ländern ließ 1997 nach, die BSHG-Gruppen wurden kleiner und so musste ab 1998 mit Unterstützung des Arbeitsamtes in mehreren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Restaurierung weitergeführt werden. Baumaßnahmen an der Dachkonstruktion, Klempnerarbeiten, Sandsteinarbeiten, der technische Ausbau, wurden von hiesigen Firmen ausgeführt. Die Bleiverglasung in den halbachsigen Fenstern und den Kreuzstock-Fenstern, typische Merkmale der Renaissance, wurden von einer Künstlerin aus Lettland gefertigt und von ABM-Kräften eingebaut.[4] 2001 wurden die Arbeiten abgeschlossen.[11]

Seit dem 19. Januar 2008 gehört das Gebäude der Bürgerstiftung Norden, die das Gebäude vom Landkreis Aurich für 70.000 Euro erwarb und seitdem als Bürgerhaus bezeichnet.[13] Der Begriff hat längst Eingang in den Norder Alltagssprachgebrauch gefunden. Mit dem Kaufvertrag ging die Stiftung die Verpflichtung ein, das Gebäude zukünftig für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen.[14] Neben standesamtlichen Trauungen kann das Gebäude auch für Veranstaltungen genutzt bzw. gemietet werden.

Beschreibung

Außenbeschreibung

Das Gebäude steht giebelständig in Richtung Marktplatz. Im vorderen Bereich ist es einstöckig, im hinteren zweistöckig. Dieser Bereich ist selbst bei Veranstaltungen nicht öffentlich zugänglich. Das Bauwerk ist insgesamt 22 Meter lang und 8,20 Meter breit. Die Außenmauern sind zwischen 50 und 70 Zentimeter dick, bestehen aus Backsteinen im Klosterformat im Vollmauerwerk.[4]

Der zum Markt zeigende Giebel ist mit Sandsteinbändern, sogenannten Specklagen, sehr aufwendig gestaltet. Architektonisch herausragend ist zudem der große Saal, der heute für Veranstaltungen genutzt wird und der im Zuge der Restaurierung sein ursprüngliches Aussehen wiedererlangt hat. Er ist etwa 13 x 6,5 Meter groß. Die Giebelwand zum Wand wird durch zwei hohe Kreuzstockfenster akzentuiert, dazwischen befindet sich der Kamin. Der Fußboden besteht aus sogenannten Plaveuzen (antike Bodenbeläge).[1] Es handelt sich um sogenannte Bremer Floren, größere Back- oder Bruchsteine, die ursprünglich aus Bremen stammen sowie größere Tonplatten.[4] Auf der langen Westseite wird der Saal von einem Kreuzstockfenster und acht einachsigen Fenstern belichtet.

Innenbeschreibung

Das Haus ist mit drei großen Räumen unterkellert, die mit backsteinsichtigen Wänden und Tonnengewölben umgrenzt sind. Der Fußboden ist mit großen Klosterformatsteinen gepflastert. Im Erdgeschoss dominiert ein 100 qm und 5,10 m hoher Saal, mit einer Reihe bleiverglaster Fenster und einem neu errichteten Sandsteinkamin. Die Bodenfläche ist mit alten Tonbodenplatten ausgelegt und die 1792 abgesenkte Holzbalkendecken aus 400 Jahre alten Eichenbalken befindet sich wieder in ihrer um 50 cm höheren Position. Die Besonderheiten dieser Decke ist die sogenannte Mutter/Kind-Konstruktion (tragende Deckenbalken mit kleineren Querbalken) und aufgelegten Backsteinen als ursprünglich vorgesehener Brandschutz. Der nördliche Teil des Hauses ist zweigeschossig, mit einer Eingangssituation mit Kaminanlage und Bremer Floren ausgelegt.[4] Die Haustür führt von der Hofseite (Ostseite) direkt in den Saal. Seit der Restaurierung wird jedoch der Nordeingang benutzt. Auch die Deckenkonstruktion zeigt den originalen Zustand. Über den Deckenbalken aus Eichenholz liegen Kanthölzer, auf denen eine Backsteinschicht verlegt ist. Dies ist eine frühe Form des Brandschutzes, denn bei einem Brand des Dachstuhls ist der Saal vor dem Feuer geschützt. Wahrscheinlich war dies eine Folge des großen Stadtbrandes von 1531, ausgelöst durch Brandschatzungen des Balthasar von Esens.[1]

Der Keller besaß ursprünglich eine Balkendecke und wurde im 17. Jahrhundert mit einem Backsteingewölbe versehen. Der nördliche Gebäudeabschnitt ist in einer Länge von etwa 7 Metern zweigeschossig. Jedes Geschoss bestand aus einem Raum. An beiden Giebelseiten befanden sich Kamine, heute nur noch an der südlichen. Im Giebel sind Kreuzstockfenster und an den Seiten einachsige Fenster eingebaut. Die unteren Fenster besitzen wie die des Saals Holzklappen.[1]

Der untere Raum diente wahrscheinlich als Küche und der obere Raum zum Schlafen. Beide Räume verfügten über jeweils eine Toilette, was als Beweis für einen gehobenen Wohnkomfort gelten kann, denn üblicherweise waren solche Aborte in Nebengebäuden untergebracht.[1]

Trivia

In der Zeit um 1812 hatte das Gebäude die Hausnummer 573.[15]

Galerie

Literatur

  • Schreiber, Gretje (2020): Die Bewohner des Bürgerhauses in Norden. Haus der Bürgerstiftung Norden, Norden

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 Pühl, Eberhard (2007): Alte Backsteinhäuser in Ostfriesland und im Jeverland. Backsteinbauten des 15. bis 19. Jahrhunderts, Oldenburg, S. 181f.
  2. 2,0 2,1 Schreiber, Gretje (2020): Die Bewohner des Bürgerhauses in Norden. Haus der Bürgerstiftung Norden, Norden, S. 42
  3. 3,0 3,1 3,2 Bericht der Ostfriesen Zeitung vom 18. Januar 2020
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 4,4 4,5 4,6 4,7 4,8 Geschichte des Norder Bürgerhauses, abgerufen am 10. Mai 2021
  5. Schreiber, Gretje (2020): Die Bewohner des Bürgerhauses in Norden. Haus der Bürgerstiftung Norden, Norden, S. 10f.
  6. 6,0 6,1 Schreiber, Gretje (1992): Der Norder Marktplatz und seine Geschichte bis heute, Aurich, S. 131
  7. Schreiber, Gretje (2020): Die Bewohner des Bürgerhauses in Norden. Haus der Bürgerstiftung Norden, Norden, S. 13
  8. Schreiber, Gretje (2020): Die Bewohner des Bürgerhauses in Norden. Haus der Bürgerstiftung Norden, Norden, S. 15
  9. 9,0 9,1 Canzler, Gerhard (1997): Alt-Norden, Weener, S. 38
  10. 10,0 10,1 10,2 Schreiber, Gretje (1992): Der Norder Marktplatz und seine Geschichte bis heute, Aurich, S. 132
  11. 11,0 11,1 11,2 11,3 11,4 Schreiber, Gretje (2020): Die Bewohner des Bürgerhauses in Norden. Haus der Bürgerstiftung Norden, Norden, S. 22
  12. Auflistung von Bunkern auf Luftschutzbunker Wilhelmshaven, abgerufen am 19. Juni 2022
  13. Internetseite der Bürgerstiftung Norden, abgerufen am 10. Mai 2021
  14. Bericht der Ostfriesen Zeitung vom 12. Januar 2008
  15. Cremer, Ufke (1938): Die Hausnummern Nordens im Jahre 1812, Norden, S. 2

Siehe auch