Levy Altgenug

Aus Norder Stadtgeschichte
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Levy (Levi) Moses Altgenug (* 4 November 1890 in Norden; † nach November 1941 im Ghetto Minsk)[1] war ein Norder Kaufmann, der in den 1930er Jahre einige Zeit das bekannte Geschäft Zur goldenen 72 am nördlichen Neuen Weg betrieb, bis er 1937 von den Nationalsozialisten enteignet wurde.[2] Er wohnte an der Sielstraße 21.[3]

Leben

Biographie[4]

Levy Altgenug war Kaufmann in Norden und heiratete die aus Ilmenau in Thüringen stammende Erna Kirstein. Wann und wo sich die beiden kennengelernt hatten, ist unbekannt, ebenso das Datum der Hochzeit. Erna Altgenug zog im Oktober 1921 zu ihrem Ehemann nach Norden. Ihr Vater, Joseph Kirstein, stammte aus Russland und hatte 1893 in Ilmenau die Aufnahme als Bürger für sich und seine Familie beantragt. Vermutlich siedelten die Kirsteins zu dieser Zeit über, da im zaristischen Russland zunehmend Pogrome gegen Juden stattfanden.

In der thüringischen Stadt führte die Familie Kirstein bis Ende der 1920er-Jahre ein Herrenbekleidungsgeschäft. Ernas Mutter Marianne, geb. Heinemann, starb am 15. April 1939 in Ilmenau; der Vater später in Leipzig. Erna hatte zwei Jahre jüngere Zwillingsbrüder: Sally und Julius (* 17. 1. 1893 in Ilmenau). Über sie ist nicht viel bekannt.

Wie überall in Deutschland waren in Norden mit der Machtübernahme der NSDAP Veränderungen spürbar und die Lage für die zahlreichen jüdischen Händler in der Stadt verschlechterte sich drastisch. Schon im April 1933 wurden die Fleischerinnungen und Handwerkskammern von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet und Juden ausgeschlossen. Öffentliche antisemitische Hetze schmälerte den Ertrag der jüdischen Metzger und Viehhändler zudem erheblich. Der für den 1. April 1933 im gesamten Reichsgebiet organisierte Boykott jüdischer Geschäfte und Betriebe hielt in Norden eine ganze Woche an. Völlig zum Erliegen kamen die jüdischen Unternehmen des Ortes spätestens mit der Verordnung zur »Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« 1938. Sie hatte zur Folge, dass auch in Norden jüdische Gewerbe veräußert oder geschlossen werden mussten.

Drei Tage vor der Deportation, am 11. November 1941, erlitt Levy Altgenug einen schweren Nervenzusammenbruch. Sein Arzt Dr. Julius Herzog bescheinigte ihm: "Herr Levi Altgenug, Berlin-Charlottenburg Sybelstraße 27, hat gestern einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten; er ist dadurch völlig außerstande seine Angelegenheiten zu ordnen und muß dauernd unter der Pflege und Wartung seiner Frau im Bett bleiben." Sein schlechter gesundheitlicher Zustand wurde von den Nationalsozialisten nicht berücksichtigt. Erna und Levy Altgenug waren 49 und 51 Jahre alt, als sie am 14. November 1941 nach Minsk deportiert wurden. Das Ghetto überlebten beide nicht. Im Februar 2011 verlegte die Ökumenische Arbeitskreis Synagogenweg Norden für Erna und Levy Altgenug Stolpersteine an ihrer früheren Adresse in Norden.

Zur Familie[4]

Levy Altgenugs Vater Moses war bereits zwei Jahre zuvor verstorben; dessen Geschwister Lazarus und Lina Altgenug gehörten im April 1940 zu den letzten in Norden verbliebenen Jüdinnen und Juden. Sie wurden am 24. Oktober 1941 von Berlin nach Litzmannstadt deportiert. Im dortigen Ghetto starb Lazarus Altgenug am 6. Februar, seine Schwester Lina kurz darauf am 19. Februar 1942. Vermutlich erlagen sie wie Tausende andere den unmenschlichen Lebensbedingungen im Ghetto. Levys Onkel Joseph Altgenug, der nach dem Novemberpogrom 1938 im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert, dann aber wieder freigelassen worden war, wurde am 18. November 1941 von Hamburg in das Ghetto von Minsk verschleppt. Am 28. Juli 1942 fiel er zusammen mit 3500 anderen Jüdinnen und Juden aus dem Altreich einer Tötungsaktion durch Sicherheitspolizei und dem NS-Sicherheitsdienst zum Opfer.

Levys in Berlin lebender Bruder Hardwig wurde bei den Novemberpogrome verhaftet. Da er aber eine Ausreise nach Palästina in Aussicht hatte, entließ man ihn bald wieder. Doch die endgültige Einreiseerlaubnis ließ auf sich warten. Denn nach Aufständen der arabischen Bevölkerung, senkte die Mandatsregierung die Einwanderungsquoten. Die Gestapo drängte Hardwig Altgenug nun auszureisen, sonst drohte eine erneute Inhaftierung. Als er die Möglichkeit hatte, nach Shanghai zu emigrieren, verweigerten ihm die deutschen Behörden den Pass. Er glaubte, dass dies an der »Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit« lag: Er sollte erst die willkürlichen Sonderabgaben zahlen. Hardwig Altgenugs Kinder hatten 1938 allein nach Palästina ausreisen können. Er selbst, seine Frau und seine Mutter konnten schließlich am 24. Februar 1939 nach Schanghai fliehen. In den französischen und internationalen Teil der Stadt konnte man bis 1941 ohne Visum einreisen. Dies war für viele jüdische Flüchtlinge die letzte Rettung. Anfang 1940 erhielten Hardwig Altgenug und seine Frau eine Einreiseerlaubnis nach Palästina. Der Mutter Betty Altgenug, wurde diese von der Mandatsregierung verweigert. Sie verstarb am 19. November 1943 in Shanghai. Karl, Rosa und Bertha Altgenug konnten nach Kolumbien entkommen. Wann sie genau dorthin flüchteten, ist unbekannt. Erna, Levy und Heinz Altgenug waren Mitte der 1930er-Jahre nach Wuppertal gezogen, 1937 siedelten sie nach Berlin über, wo zu dem Zeitpunkt nicht nur Levys Bruder Hardwig Altgenug, sondern auch der Bruder Karl wohnten.

Heinz Altgenug besuchte ab Mai 1938 eine Tagesschule in einem zionistischen Lager für männliche Jugendliche in Berlin. Bis 1936 hatten nahezu alle nicht jüdischen Betriebe die Ausbildung jüdischer Lehrlinge abgebrochen und die jüdischen Organisationen und Gemeinden bemühten sich, den Jugendlichen durch eigene Ausbildungsangebote eine berufliche Perspektive zu geben. Wer einen der begrenzten Ausbildungsplätze ergattern konnte, sollte vor allem auf die Alijah, also eine Auswanderung nach Palästina, vorbereitet werden. Teils wurden die Auszubildenden an Betriebe in der Umgebung vermittelt, was das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft allerdings missbilligte.

Mit dem zunehmenden staatlichen Terror der Nationalsozialisten wurden die Hachschara-Ausbildungsstätten für viele junge Jüdinnen und Juden zu Orten der Hoffnung auf Rettung. Da in den Kibbuzim vor allem junge Fachkräfte für Landwirtschaft und Handwerk gebraucht wurden, erhöhte eine Ausbildung in diesen Bereichen zudem die Chancen auf ein Einreisezertifikat nach Palästina. Daneben lernten die Jugendlichen Hebräisch und jüdische Kultur. In dem 1934 von der Schulabteilung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland eröffnete Hachschara-Lager Berlin-Niederschönhausen in der Hermannstraße 64, das Heinz Altgenug besuchte, lernten die Jugendlichen in Werkstätten das Schlosser- und Tischlerhandwerk. Die Tagesschule und ein angeschlossenes Heim waren 1936 in Niederschönhausen eröffnet worden. Die Ausbildungsstätte unterstand der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und war eines von 30 sogenannten Hachscharót, die es Ende der 1930er-Jahre in Deutschland gab. Heinz Altgenug konnte Deutschland 1939 vor Kriegsbeginn verlassen. Vermutlich erreichte er Palästina, wo er in die britische Armee eintrat. Als Fahrer diente er beim Royal Army Service Corps in der Kompanie 462. Seine Einheit war 1941 an der Besatzung der libyschen Stadt Tobruks beteiligt und kämpfte in der Schlacht von El Alamein, bei der die britischen Streitkräfte zusammen mit ihren Verbündeten die deutschen und italienischen Truppen schlugen.

Nach Aufenthalten in verschiedenen nordafrikanischen Städten bestieg Heinz’ Einheit ein Schiff in Richtung Malta. Nach einem Angriff durch feindliche Kampfflugzeuge am Abend des 1. Mai 1943 sank ihr Schiff; nur wenige Passagiere überlebten. Unter den 148 umgekommenen Soldaten war auch der 21-jährige Heinz Altgenug. Er ist auf dem Phaleron Soldatenfriedhof in Athen begraben. Ob er mit seinen Eltern noch bis zu deren Deportation in Kontakt stand und sie von seinem Dienst beim britischen Heer wussten, ist unbekannt. In der Vermögenserklärung, die Levy Altgenug kurz vor der Deportation ausfüllen musste, gab er als letzten Beschäftigungsort die Gummiwerke Fromms Act in Köpenick an. Dort musste er wie so viele Berliner Jüdinnen und Juden Zwangsarbeit leisten. Die Firma des jüdischen Unternehmers Julius Fromm stellte die ersten Markenkondome Deutschlands her. Das Werk in der Friedrichshagener Straße in Köpenick war die zweite Fabrik, die Julius Fromm Anfang der 1920er-Jahre in Berlin eröffnete. 1938 wurde Fromm vom Reichswirtschaftsministerium gezwungen, seine Firma zu verkaufen, und er floh noch im gleichen Jahr nach England. Trotz Rohstoffmangels wurden während des Krieges Kondome produziert, um eine Wehrkraftzersetzung des Heeres zu vermeiden. Im Ersten Weltkrieg hatten sich rund zwei Millionen deutsche Soldaten mit Geschlechtskrankheiten infiziert; die kostenlose Verteilung von Präservativen sollte dies nun verhindern.

Einzelnachweise

  1. Genealogische Aufzeichnung zu Levy Moses Altgenug, abgerufen am 20. Juli 2022
  2. Gödeken, Lina (2000): Rund um die Synagoge in Norden. Die Geschichte der Synagogengemeinde seit 1866, Aurich, S. 339
  3. Übersicht der Stolpersteine auf norden.de, abgerufen am 2. Februar 2024
  4. 4,0 4,1 Biographische Daten zu Levy Moses Altgenug und seiner Familie, abgerufen am 20. Juli 2022

Siehe auch